„Sag mal, wie ist das eigentlich, die Frau eines Bestatters zu sein? Ist das nicht irgendwie – unheimlich?“

Keine Ahnung, wie oft mir diese Frage schon gestellt wurde. Und keine Ahnung, was ich darauf eigentlich antworten soll. Vielleicht sollte ich mir diese Frage erst einmal selber stellen?

Wie ist das also eigentlich? Unheimlich?

Nö! Unheimlich ist daran gar nichts. Ein Verstorbener ist ein Mensch, so wie Du und ich. Ja, ok, sein Herz hat aufgehört zu schlagen und sein Gehirn zeigt auf dem EEG keine Aktivitäten mehr, seine Muskeln erschlaffen und die Haut ist kalt. Aber ansonsten – ist es einfach nur ein Mensch. Das Gehirn dieses Menschen hat im Laufe des Lebens sicher viele gute Gedanken gedacht und das Herz dieses Menschen hat im Laufe des Lebens sicher viel Liebe gespürt und gegeben. Beides hat Spuren hinterlassen auf dieser Welt. Und daran ändert sich nichts. Auch nicht durch den Tod.

Möglicherweise kann ich so darüber denken, weil ich von klein auf total unverkrampft mit dem Tod konfrontiert wurde. So wurde ich damals, als 5-Jährige, völlig selbstverständlich zur Verabschiedung an den offenen Sarg eines Großonkels mitgenommen. Als 5-jähriger, laufender Meter, hatte ich einen Exklusivplatz am Fußende und einen Exklusivblick auf das Gesicht des Verstorbenen. Wir begegneten uns sozusagen „auf Augenhöhe“. Dumm nur, dass die Augen des besagten Großonkels nicht wirklich ganz geschlossen waren. Halb offene Augen bei einem ansonsten ziemlich blass und unbeweglich aussehenden Großonkel wirkten auf mich, als 5-jährigen laufenden Meter, ziemlich irritierend. „Mama…der guckt aber noch…der ist ja gar nicht ganz tot…nur ein bisschen vielleicht?“ Es folgte also das erste Gespräch über den Tod und über dessen Auswirkungen auf den Körper.

Wenige Jahre später durfte ich dann miterleben, mit welcher Selbstverständlichkeit mein Uropa von Familienangehörigen zu Hause in seinem Sterbebett rasiert, gewaschen, gekämmt und gekleidet wurde. Dass dies heutzutage gar nicht mehr so selbstverständlich ist, habe ich inzwischen traurig begriffen. Ihm folgten dann über die Jahre meine Uroma und beide Großelternpaare. So bin ich in meiner Kindheit dem Tod häufig begegnet, durfte ihn sehen und wirklich „BE-GREIFEN“. Wie sich die Gesichtszüge verändern. Oder wie die Haut sich nun anfühlt. Ich glaube, „be-greifen“ hilft dabei, zu verstehen. Und ich glaube, verstehen hilft dabei, loszulassen. Möglicherweise sind deshalb gewisse Berührungsängste bei mir erst gar nicht entstanden und vielleicht kann ich deshalb heute sagen, dass ich am Tod oder an Verstorbenen rein gar nichts „unheimliches“ sehen kann.

(Vielleicht wäre es auch ganz gut, den Kindern heutzutage weniger verstörende Gruselbilder und Horrorfilme mit Leichen und Zombies vorzusetzen und ihnen stattdessen die Chance zu geben, den Tod als das begreifen zu lernen, was er ist – ein natürlicher Teil unseres Lebens, der uns keine Angst machen braucht… aber das muss jede Familie für sich selbst entscheiden und da will ich mich auch gar nicht einmischen.)

Wenn es nun aber nicht unheimlich ist, was oder wie ist es dann, die Frau eines Bestatters zu sein?

„Ganz gut“ kann ich es ja nicht nennen, denn „gut“ ist wohl so ziemlich das unpassendste Wort in diesem Zusammenhang. Der Tod ist ganz natürlich – aber gut kann ich ihn nur in den aller-aller wenigsten Fällen bezeichnen.

Ist es vielleicht „stressig“?

Naja, ehrlich gesagt – manchmal schon!

Stressig ist es, wenn das Telefon meines Mannes an manchen Tagen zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten so häufig klingelt, dass ich es am liebsten im Blumenbeet im Garten vergraben oder im Bach hinter dem Haus ertränken würde.

Oder wenn mein Mann an den letzten beiden Tagen vor unserem langersehnten Urlaub von früh morgens bis spät abends mit 4 Trauerfällen gleichzeitig beschäftigt ist. Dann stehe ich da, inmitten von Koffern und Wäschebergen einer Großfamilie, umringt von 5 Jungs, die mir die Hälfte der gepackten Sachen wieder ausräumen und frage mich: „Warum müssen ausgerechnet JETZT 4 Menschen gleichzeitig sterben? Oder während der Tauffeier unserer beiden Kleinsten? Oder während der Einschulung unseres Mittleren?“

Warum? Weil der Tod nicht fragt, wann es uns recht ist! Das tut er nie! Weder die Frau eines Bestatters, noch die Angehörigen und schon gar nicht den Betroffenen selbst.

Und dann kriege ich ein schlechtes Gewissen!

Was jammere ich hier auf hohem Niveau? Wegen nicht fertig gepackten Koffern? Oder unterbrochenen Familienfeiern? Was bedeutet das schon?

Die Menschen am anderen Ende der Leitung haben ganz andere Sorgen! Sie durchleben gerade einen der schlimmsten Einschnitte in ihrem Leben, sie verlieren gerade den Boden unter ihren Füßen, manche sogar ihren kompletten Halt. Sie werden nie wieder mit oder für ihre Lieben einen Koffer packen, werden nie wieder alle zusammen ein Familienfest feiern können und manche werden nie ihr Kind zu seiner Einschulung begleiten können, weil sie es zu Grabe tragen müssen. Diese Menschen brauchen meinen Mann nun dringender. Und das ist völlig in Ordnung!

Meine Antwort lautet also NEIN! Nein, es ist NICHT stressig, die Frau eines Bestatters zu sein. Denn das, was wir alle manchmal als „Stress“ bezeichnen, ist genau betrachtet rein gar nichts, im Vergleich zu dem, was die Menschen am anderen Ende der Leitung gerade durchleben.

Macht mich das nicht traurig?

Oh doch! In vielen Fällen tut es das! Vielleicht bin ich ein bisschen zu empfindlich, was das angeht. Aber ich kann nicht anders, als in manchen Situationen einfach nur tieftraurig zu sein.

Wenn mein Mann nach Hause kommt und erzählt, dass er eben drei Stunden lang einer Witwe zugehört hat, die gar nicht weiß, wie es nun weitergehen soll, ohne ihren Mann, mit dem sie fast 60 Jahre ihres Lebens glücklich (!) geteilt hat.

Oder wenn er von dem jungen Mann erzählt, der ihm schweigend das Brautkleid seiner jungen, hübschen Frau reichte, damit sie es auf ihrem letzten Weg noch einmal tragen kann.

Oder wenn er sich selbst die Tränen verdrückt, während er mir von dem kleinen, zu früh geborenen Mädchen erzählt, das er völlig unbekleidet aus der Pathologie abholen musste, weil es keine Kleidung für so ein winziges Kind gibt. (Inzwischen haben wir die „Himmelskleider“ gefunden, dazu aber ein Andermal mehr)

Ja, dann bin ich traurig! Und manchmal weine ich auch, weil mich das so sehr berührt. Und weil ich es nicht schaffe, eine Art „professionelle Distanz“ aufzubauen, die man in diesem Beruf vermutlich braucht.

Mein Mann hat diese Distanz übrigens auch (noch?) nicht so ganz. Vielleicht kommt dies mit den Jahren, vielleicht auch nicht. Vielleicht ist es aber auch ganz gut so, denn diese vermeintlich fehlende Distanz macht seine Arbeit unglaublich menschlich und einfühlsam.

Für ihn gibt es keine „Fälle“. Für ihn gibt es immer nur dieses eine Schicksal um diesen einen, besonderen Menschen.

Er hört der verzweifelten Witwe zu. Auch drei Stunden lang. Drei Stunden, die er eigentlich gar nicht hat, die er sich dafür aber einfach nimmt. Weil es kaum etwas Wertvolleres gibt, was man einem trauernden Menschen geben kann, als Zeit. Echte Zeit.

Er nimmt das Brautkleid schweigend entgegen, weiß genau, was damit zu tun ist und weiß genau, dass Worte in gewissen Augenblicken einfach fehl am Platz sind. Manchmal sagt gemeinsames Schweigen so viel, viel mehr, als Worte es je könnten.

Er nimmt das kleine, zu früh geborene Mädchen in seine Hände und wickelt es behutsam, mit der Liebe eines Vaters, in Tücher und Decken. Damit die Kleine ihren letzten Weg wenigstens eingekuschelt gehen kann. Damit für ihre Eltern der letzte Anblick wenigstens ein klitzekleines bisschen erträglicher ist. Seine Arbeitszeit werden die Eltern auf keiner Rechnung finden. Für die Beisetzung eines Kindes nimmt er kein Geld. Das will er nicht. Wie es auch schon sein Vater und sein Großvater nicht wollten.

Es macht für meinen Mann auch keinen Unterschied, ob ein Verstorbener am offenen Sarg verabschiedet oder direkt in ein Krematorium überführt werden soll – er behandelt jeden Menschen mit einer Würde, die nicht nur eine „Floskel“ ist, sondern seine Lebenseinstellung wiederspiegelt.

Sein Lieblingszitat „…und in dem Wie, da liegt der ganze Unterschied…“ von Hugo von Hofmannsthal bekommt dadurch eine wirkliche Bedeutung.

Und auch wenn es mich oft traurig macht, die Frau eines Bestatters zu sein, hautnah und alltäglich mit Trauer konfrontiert zu sein, kann ich sagen, dass es mich in gewisser Weise auch tröstet. Tröstet, weil ich weiß, wie behutsam er mit den Verstorbenen umgeht und mit wie viel Herzblut er für die Angehörigen in ihrer schwersten Zeit da ist.

Macht mich das vielleicht stolz?

Ich denke nicht, dass Stolz das passende Wort dafür ist. Stolz assoziiere ich mit einer gewissen Überheblichkeit – und das trifft es definitiv nicht. Eher eine Art Bewunderung. Bewunderung dafür, dass er „sein Ding“ durchzieht, so wie er es für richtig hält.

Die Entscheidung, Bestatter zu werden, erfolgte für meinen Mann auf Umwegen, dafür aber dann aus tiefster Überzeugung. Im väterlichen Betrieb hat er zwar schon lange bei Überführungen mitgeholfen, aber eigentlich ist er ja (sorry… aber das muss ich so sagen… ein ziemlich langweiliger) Banker, der dann irgendwann etwas Handwerkliches ausprobieren wollte. Ein Arbeitsunfall und dessen Folgen machten ihm einen Strich durch diese Rechnung. So! Und nun?

Er entschied sich, Bestatter zu werden. Aber wenn, dann „richtig gut“.

Mit schwangerer Frau und 4 Kindern im Nacken hat er also die Ausbildung zum Geprüften Bestatter in Europas einzigem Lehrinstitut für Bestatter in Münnerstadt angefangen und erfolgreich beendet. Dort lernte er nicht nur, wie man Augen richtig schließt (ja, hätte das der Bestatter meines Großonkels damals auch mal lieber gelernt!) oder wie man eine ordentliche hygienische Versorgung durchführt, sondern auch rechtliche, organisatorische und vor allem psychologische Aspekte dieses Berufs.

Mit diesem Wissen ist er nun zurück in einer ländlichen Kleinstadt und täglich darauf bedacht, den Spagat zwischen Tradition und Moderne, zwischen neueren Methoden und „wie man es hier halt schon immer so macht“, zwischen rechtlichen Vorschriften und den Wünschen der Angehörigen hinzukriegen. Ich glaube, das schafft er richtig gut! Hin und wieder muss ich sogar ein wenig schmunzeln, wenn er mal wieder die eine oder andere Diskussion mit Behörden oder Institutionen führt, um ein wenig frischen Wind durch die Branche wehen zu lassen, ohne aber dabei alles Bewährte vom Tisch zu fegen.

So, nun habe ich aber immer noch keine Antwort gefunden.  Wenn es weder unheimlich, noch stressig, traurig, gut oder das Gefühl von Stolz ist, die Frau eines Bestatters zu sein – ist es dann vielleicht lehrreich?

Ich denke, dies ist ein ganz guter Ansatz, um meiner Antwort näher zu kommen.

Lehrreich ist es vor allem für unsere Kinder. Nicht nur, weil unser 4-jähriger im Kindergarten ganz selbstbewusst die Großen bei Seite schiebt und sagt: „Lasst mich zu dem toten Vogel, ich kann das! Ich bin ein guter „Beerdiger“, wie mein Papa!“ Nicht nur, weil unser 6-jähriger richtig gut erklären kann, wie denn so ein großer Körper in eine so kleine Urne passen kann.

Ich denke, es lehrt sie, dass der Tod ein ganz natürlicher Bestandteil unseres Lebens ist. Und etwas, das wir alle gemeinsam haben. Dass es im Grunde keinen Unterschied macht, ob wir groß oder klein, dick oder dünn, alt oder jung sind. Ob wir 2 Beine oder 4 Pfoten haben, ob wir einen bzw. welchen Glauben wir haben oder in welcher Farbe unsere Haut das Licht reflektiert. Im Grunde sind wir alle gleich. Zumindest vor dem Tod. Diese Lektion gefällt mir persönlich sehr gut.

Lehrreich ist es aber auch für mich. Ich sehe nicht nur den Tod mit anderen Augen, ich sehe auch das Leben mit anderen Augen. Es ist eben NICHT selbstverständlich, dass wir immer alles planen und organisieren können. Es ist eben NICHT selbstverständlich, dass es immer ein „ja gleich“ oder ein „irgendwann später“ geben wird. Für manche Dinge gibt es weder „gleich“ noch „später“. Für manche Dinge gibt es nur ein JETZT! Und ich glaube, ich lebe dadurch bewusster. Ich glaube auch, dass der Beruf meines Mannes für mich den Blick auf viele Dinge des Lebens verändert. Ein nicht fertig gepackter Koffer zum Beispiel – das ist kein Drama und schon gar keine Katastrophe, sondern nichts weiter, als ein nicht fertig gepackter Koffer.

Ich denke, wenn ich alles nochmal revue passieren lasse, habe ich meine Antwort nun doch noch gefunden.

Ich weiß jetzt, was ich beim nächsten Mal antworten werde, wenn mir jemand die Frage stellen wird: „Sag mal, wie ist das eigentlich, die Frau eines Bestatters zu sein? Ist das nicht irgendwie – unheimlich?“

Dann werde ich innerlich lächeln.

Lächeln und sagen:

„Ja! Das ist unheimlich…unheimlich WERTVOLL!“

Laura Hafner-Kehm