Ich bin eine Mama. Mein Mann ist Bestatter. Wir haben fünf Kinder und ein fröhlich-turbulentes Leben. Durch seinen Beruf ist es noch ein wenig turbulenter, da wir eigentlich nie etwas richtig planen können – denn wenn sein Telefon klingelt, muss mein Mann los – und ich bleib zuhause bei den Kindern.

Bis zu jenem kalten Wintertag vor einem Jahr, als dieser eine Anruf kam. Ein junges Elternpaar rief an. Ihr kleines Mädchen hatte es nicht geschafft, hier auf unserer Erde anzukommen. Normalerweise fährt mein Mann dann los, um den Familien zu helfen. Er fährt los, denn er ist der Bestatter. Ich bin eine Mama. Ich bleibe normalerweise zuhause und weine nur im Hintergrund ein paar Tränen, die niemand sieht, wenn ich von einem weiteren kleinen Sternenkind erfahre.

An jenem Tag war es anders. Ich fühlte mich plötzlich zurück versetzt zu diesem kalten Wintertag vor vielen Jahren, als ich selber diese bittere Erfahrung machen musste, ein Kind schon früh in der Schwangerschaft zu verlieren. Damals fühlte ich mich ziemlich alleine und konnte nicht wirklich was dagegen tun.

Als dann dieser eine Anruf kam, spürte ich auf einmal das tiefe Bedürfnis, meinen Mann zu seiner Arbeit zu begleiten, die Eltern zu begleiten.

Vielleicht war ja meine Zeit dafür gekommen? Also organisierte ich schnell jemanden, der auf die Kinder aufpassen konnte, und fuhr mit.

Vor dem Beratungsgespräch war ich sehr nervös. Ich musste zwar nichts weiter tun, außer da zu sitzen – aber würde ich es schaffen, nicht plötzlich in Tränen auszubrechen? Das wäre ja mal sowas von daneben…

Seltsamerweise ging es. Ich konnte zwar den Seelenschmerz der Mama zeitweise richtig körperlich fühlen, aber es war nicht auf der Ebene, die auf die Tränendrüse drückt. Eher die Ebene, die einem die Kraft gibt, die man braucht, um sie jemand Anderem schenken zu können. Es fühlte sich richtig an. Und in diesem Augenblick wurde mir klar: Ich wollte nicht nur da sitzen und die Eltern still begleiten – ich wollte auch etwas tun können und dieses kleine Sternenkind begleiten.

Als alle Formalitäten erledigt und die Eltern gegangen waren, hörte ich mich selber sagen: “Ich möchte gerne dieses kleine Mädchen begleiten. Ich bin eine Mama. Und ich möchte die Kleine anziehen und einbetten – stellvertretend für ihre Mama, die es vor lauter Kummer momentan nicht selber tun kann.” Er war einverstanden.

Auf dem Weg zur Pathologie zitterten meine Hände und meine Knie um die Wette. Noch nie hatte ich so einen Ort betreten.

Was würde mich dort erwarten? Würde ich das schaffen, oder schon auf dem Weg dahin aus den Latschen kippen? Zum Glück fuhr mein Mann den Bestattungswagen.

Ich weiß nicht mehr genau, ob ich diesen winzigen, weißen Sarg durch die Türe getragen habe, oder er mich. Wie auch immer, jedenfalls schienen wir uns aneinander festzuhalten, was zumindest meine Hände am weiter zittern hinderte.

In der Pathologie war alles steril. Und kalt. Ein seltsamer Ort. Aha, hier wohnt er also, der Tod?!? Ich fühlte gar nichts.

Dann brachte der Pathologe das kleine Mädchen schon zu uns.

Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, ob meine zitternden Knie und mein überaus empfindlicher Kreislauf damit einverstanden sein könnten, was ich da tue, sah ich sie: dieses wunderschöne, bildhübsche, äußerlich perfekte kleine Baby. Aber sie war still. Still geboren – aus irgendeinem Grund, den wir mit unserem begrenzten menschlichen Verstand vermutlich niemals verstehen können.

Die Stille war seltsamerweise gar nicht bedrückend. Eher beschützend.

Genauso beschützend wie meine Hände, die sich wie von selbst um den winzigen Körper legten. Mein Gott, was für ein bezauberndes kleines Geschöpf! Wie weich und zart sie sich anfühlte! Und doch so kalt und leblos. Welch Paradoxon!

Meine Hände handelten, als hätten sie noch nie etwas anderes getan. Alles Zittern war vergessen. Unter den wachsamen Augen meines Mannes wickelte ich die Kleine in ein hübsches Pucksäckchen, welches von guten Seelen in liebevoller Handarbeit ehrenamtlich genäht wurde. Jede Berührung fühlte sich so leicht an, so vertraut – fast so, als würde die Liebe ihrer Mama meine Hände führen. Ich kleidete den Sarg aus und kuschelte die Kleine ein. Rechts und links die zwei Bärchen, die ihre Eltern ihr mitgeschickt hatten. Natürlich auch den Brief ihrer Mama. Wie viele Tränen mögen da wohl mit drin sein? Ich bin auch eine Mama, ich hab auch ein Sternenkind, dennoch kann ich es mir vermutlich nur ansatzweise vorstellen.

Als ich fertig war, bot sich mir ein sehr friedliches, fast “schönes” Bild von diesem winzig kleinen Mädchen in ihrem winzig kleinen, letzten Bettchen.

Dann passierte etwas sehr Seltsames. Es wurde mir auf einmal ganz warm ums Herz.

Ein traurigfriedliches Gefühl breitete sich aus und erfüllte den ganze Raum.

Alles fühlte sich einfach nur noch richtig an. Ganz viel Liebe, ganz viel Frieden und ganz viel Herzenswärme – in einem kalten, sterilen Raum mit einem still geborenen Engelchen. Schon wieder so ein Paradoxon!

Wie sehr bedauerte ich in diesem Augenblick die Entscheidung ihrer Eltern, ihr kleines Mädchen nicht nochmal sehen zu wollen! Ich war mir sicher, dies wäre für sie so wertvoll gewesen! In diesem Moment gab ich mir selber das Versprechen, künftig alle Sterneneltern mit ein klein wenig mehr Nachdruck dazu zu ermutigen, diese so kostbare Zeit mit ihrem kleinen Kind doch noch zu nutzen.

Wir trugen den winzigen Sarg zum Auto und fuhren ziemlich schweigend zurück. Das warme, traurigfriedliche Gefühl im Herzen nahm ich mit. Ich hatte mir fest vorgenommen, zumindest einen Teil davon ihrer Mama zu bringen.

Am nächsten Tag zog ich los, um Buchstaben, bunte Farben und wetterfesten Lack zu besorgen. Der Gedanke, ihren Namen mit schwarzen Buchstaben auf einem gewöhnlichen Kreuz zu sehen, war einfach nur absurd. Also pinselte und lackierte ich den halben Tag lang, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden war.

Am Tag ihrer Beisetzung fiel der erste Schnee jenes Winters. Alles war bis ins Detail vorbereitet, alles würde wie geplant ablaufen – bis, ja bis ich dann zufällig direkt in die Augen der Mama sah. So viel Kummer, so viel Schmerz in einem einzigen Blick – und es gab rein gar nichts, was ich hätte tun können, um ihr in diesem Augenblick zu helfen. Mir wurde klar, dass jeder diesen einen, bestimmten Schmerz wohl nur alleine tragen kann. Und dass ich akzeptieren muss, dass ich nicht immer helfen kann, auch wenn ich dies so gerne würde.

Manchmal kann man nichts weiter tun, außer gemeinsam auszuhalten.

Diese Erkenntnis, verbunden mit dem spürbaren Seelenschmerz der Mama, trafen mich in diesem Moment mit voller Wucht. Und plötzlich waren sie da – unaufhaltsam – meine eigenen Tränen!

Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, ob dies nun völlig daneben sei, fühlte ich es: Ich bin eine Mama. Vor mir steht eine Mama. Sie weint gerade die bittersten Tränen, die eine Mama nur weinen kann. Und sie geht gerade den schwersten Weg, den eine Mama nur gehen kann. Meine Tränen begleiten sie. Ganz still und ganz leise, aber aus tiefstem Herzen. Das ist gar kein bisschen daneben – das ist einfach nur menschlich!

Mein Mann und ich haben viele Fotos gemacht. Den ganzen Weg des kleinen Sternenkindes durch unsere Hände, bis zu ihrem letzten Ruheort in der verschneiten Erde. Daraus erstellten wir ein wunderschönes Gedenkbuch für die Eltern. Augenblicke – eingefangen – die nie wiederkehren werden. Erinnerungen – für die es nur diese eine Chance gab. Ein kleines Geschenk von Herzen, das vielleicht irgendwann eine kleine Hilfe bei der Trauerarbeit sein kann.

Mit dem fertigen Album und weiteren Unterlagen machte ich mich nach zwei Wochen auf den Weg zu der Mama. Wir saßen gemeinsam am Tisch. Redeten, schwiegen, hörten zu, weinten – ja, wir lachten sogar gemeinsam. Einfach nur so. Ich erzählte ihr von ihrem wunderschönen, kleinen Mädchen, von jedem Handgriff, den wir durchführten, von ihren bezaubernden kleinen Lippen und dem friedlichen Anblick, wie sie in ihrem letzten Bettchen lag. Ich glaube, ich konnte ihr das Gefühl vermitteln, dabei gewesen zu sein. In gewisser Weise war sie das ja auch… Sie erzählte mir von ihren innersten Gefühlen und den Gründen, warum ihr kleines Mädchen nicht auf unserer Erde ankommen durfte. Wir weinten. Und dennoch war irgendetwas Tröstliches mit uns in diesem Raum, das ich mit Worten gar nicht beschreiben kann.

Es hat mich tief berührt, zu hören, dass sie sich bei uns aufgefangen fühlte in ihrem Schmerz und ihrer Trauer. Dass sie sich nicht ganz so alleine fühlte. Genau so soll es sein. Genau das ist der Sinn dieser Arbeit! Ich hab nicht zählen können, wie oft sie sich bei mir bedankt hat. Dabei wollte ich überhaupt gar keinen Dank. Ich wollte nur helfen. Wollte nur meinen Mann, die Eltern und ihr kleines Sternenkind begleiten.

Zum Abschied umarmte mich die Mama und für einen kurzen Moment hielten wir einander ganz fest.

Da war es wieder, dieses warme, traurigfriedliche Gefühl im Herzen. Und die Gewissheit, dass sich alles richtig anfühlt.

Ich bin eine Mama. Vor mir steht eine Mama. Für einen kurzen Augenblick waren wir EINE Mama.

Wenige Tage später erhielt ich einen wunderschönen Blumenstrauß von den Eltern. Eine der Rosen sah irgendwie anders aus, fast wie ein Herz. Als ich genauer hinsah, entdeckte ich, dass diese besondere Rose in ihrem Inneren zwei Blütenköpfe hatte. Zwei Blüten in einer herzförmigen Rose? Was für ein Zufall! Oder waren das vielleicht zwei Mamaherzen, die für eine Weile im selben Takt schlugen – für ein kleines, still geborenes Engelchen? Wie auch immer, da war es schon wieder – das traurigfriedliche Gefühl – und je öfter ich es fühlte, umso mehr gehörte es zu mir.

Ich habe sehr lange über all das nachgedacht.

Nie im Leben hätte ich erwartet, wie traurigfriedlich der Beruf meines Mannes sein kann. Dass es ein wertvoller Beruf ist, wusste ich. Aber wieviel Herzenswärme er geben und zurückgeben kann, hätte ich nie erwartet.

Inzwischen ist ein Jahr vergangen. Der Frühling hatte den Schnee geschmolzen, die Blumen blühten und die bunten Buchstaben auf dem weißen Kreuz strahlten im Licht der Sommersonne quer über den Friedhof. Der Herbst hatte die Blumen welken lassen und dafür alles in seine zauberhaften Farben getaucht. Nun ist schon wieder Winter und der eisige Wind trägt meine Gedanken immer wieder zurück zu meiner ersten Begegnung mit diesem kleinen Sternenkind.

In der Zwischenzeit habe ich viele wertvolle Menschen und ein wunderbares Netzwerk kennenlernen dürfen. Uns allen gemeinsam ist das Bestreben, Eltern in dieser traurigen Situation beistehen und sie nach Kräften unterstützen zu können. In diesem einen Jahr habe ich viele weitere Sternenkinder auf ihrem letzten Weg begleitet. Ich erinnere mich an jedes Einzelne von ihnen, denn jedes dieser Kinder hat seine ganz eigene Spur in meinem Herzen hinterlassen. Das traurigfriedliche Gefühl blieb dabei so unerschütterlich an meiner Seite, dass es zu einem Teil von mir geworden ist.

Und mit der Ironie, die das Leben manchmal mit sich bringt, klingelt das Telefon, während ich hier sitze und schreibe.

Ein weiteres kleines Sternenkind hat es nicht geschafft, hier auf unserer Erde anzukommen. Ein weiteres Elternpaar fällt gerade in dieses Loch unendlicher Verzweiflung und Hilflosigkeit. Eine weitere Mama weint gerade die bittersten Tränen, die eine Mama nur weinen kann. Deshalb werde ich jetzt gleich los fahren.

Mir ist klar, dass ich ihr den Schmerz nicht nehmen kann. Aber ich weiß, wie ich dazu beitragen kann, dass sie sich nicht ganz so alleine fühlt. Ich weiß, was ich tun kann, um ihrem winzigen Kind einen Abschied voller Würde und Liebe zu gestalten. Und ich weiß auch, dass das traurigfriedliche Gefühl mich wieder begleiten und mir dabei helfen wird.

Ich habe verstanden, wie wertvoll es sein kann, einfach nur gemeinsam auszuhalten.

Auch wenn dies eigentlich eine sehr traurige Aufgabe ist, fühle ich mich dadurch reich beschenkt und spüre eine tiefe Dankbarkeit. Jedes kleine Sternenkind gibt mir so viel zurück und meinem Tun einen so tiefen Sinn, den ich noch in keiner anderen beruflichen Tätigkeit sehen konnte.

Möglicherweise lässt auch jedes kleine Sternenkind einen winzigen Funken Hoffnung hier, den ich behutsam in den Herzen seiner Eltern entzünden darf, damit sie nicht völlig verzweifeln in ihrer Trauer. Damit sie vielleicht auch irgendwann, wenn ihre Zeit dafür gekommen ist, das traurigfriedliche Gefühl spüren können, das uns trotz Allem so viel Herzenswärme geben kann.

Wer weiß – vielleicht ist das ja das Vermächtnis der kleinen Sternenkinder: Das traurigfriedliche Gefühl!

Es trägt mich durch meine Aufgaben. Es lässt mich in so Vielem einen Sinn erkennen. Es hat für immer etwas in mir verändert.

Ich bin immer noch eine Mama – und mein Mann ist immer noch Bestatter.

Aber ich glaube – ich habe darin meine Berufung gefunden – und mich deshalb entschieden, das jetzt auch zu werden…

 

Laura Hafner-Kehm